Entwicklungspsychologie
Die Entwicklungspsychologie befasst sich mit Veränderungen und Stabilitäten während des gesamten Lebens und über verschiedene Funktionsbereiche hinweg.[1] Im Laufe der Geschichte haben sich eine Menge an unterschiedlichen Forschungstraditionen der Entwicklungspsychologie herausgebildet. Einer der bekanntesten Vertreter ist sicherlich Sigmund Freud. An dieser Stelle macht es allerdings wenig Sinn, die gesamte Forschungsgeschichte mit ihren Vertretern aufzuzählen. Dies würde nur verwirren und wahrscheinlich würde man sich nur wenig merken können.
Unser Interesse liegt vielmehr darin, dich als Jugendleiterin/Jugendleiter für deine Zielgruppe, nämlich Kindern und Jugendlichen zu sensibilisieren. Was heisst das genau? Wie du am eigenen Leibe erlebt hast, durchlaufen Menschen verschiedene Lebensphasen. Diese Lebensphasen sind von so genannten "Entwicklungsaufgaben" geprägt. Die Art und Weise wie das Kind und der Jugendliche mit diesen Entwicklungsaufgaben umgeht, haben Auswirkungen auf dessen Verhalten und Selbstwertgefühl. Sensibel für die eigenen Gruppenkinder zu sein, bedeutet aus entwicklungspsychologischer Sicht also auch, dass ein bestimmtes Verhalten eines Kindes oder Jugendlichen (fast) nie grundlos ist, sondern meistens etwas anderes zum Ausdruck bringt. Wut, Ärger, schlechte Laune usw. haben meistens mit dem gelungenen oder missglückten Umgang der Entwicklungsaufgaben zu tun. Im Idealfall solltest Du das wissen, denn es erleichtert letzlich den Umgang mit deinen Gruppenkindern. Im weiteren Verlauf wird genauer erklärt, was Entwicklungsaufgaben sind.
Inhaltsverzeichnis
Frühe Kindheit
Frühe Kindheit bezeichnet im folgenden Abschnitt die Altersspanne bis zum Schuleintritt. [2]
Körperliche Entwicklung
Sehen und hören sind bei Säuglingen bereits differenzierter entwickelt als lange angenommen. Säuglinge können Gesichter und graphische Darstellungen unterscheiden. Sie können die Stimme, den Geruch und das Gesicht der Mutter erkennen und sehr bald auch die verschiedenen Gefühlslagen im Gesicht der Mutter lesen. Sinneseindrücke und die Erfahrungen mit den Handlungen der Erwachsenen bilden ein körperliches Gedächtnis, das natürlich sehr stark durch die Art der Gefühle geprägt ist, die die betreuenden Erwachsenen dem Kind entgegenbringen.[3]
Die körperliche Entwicklung vollzieht sich bis zum 5. Lebensjahr in rasanten Sprüngen. Körperproportionen und Muskelgewebe bleiben bis zum 5. Lebensjahr ziemlich konstant. Um das 5. Lebensjahr herum beginnt der erste Gestaltwandel, d. h. dass das Kind, das bis zu dieser Zeit einen relativ großen Kopf und kurze Gliedmaßen hatte, ausgewogenere Körperprportionen bekommt. Die Gliedmaßen werden länger, das "Bäuchlein" verschwindet und der Kopf erhält im Vergleich zum Rest des Körpers normale Proportionen. Etwa mit 3 Jahren ist Laufen zu einem automatischen Bewegungsablauf geworden. Rennen kann es mit 3 Jahren auch schon. Allerdings hat es noch Probleme beim Bremsen. Im Alter von 5 - 6 Jahren kann es das Rennen effektiv beim Spiel einsetzen.[4]
Persönlichkeitsentwicklung
Egozentrismus
Die frühe Kindheit ist zunächst von einem so genannten Egozentrismus geprägt. Dies bedeutet, dass das Kind stark auf sich selbst bezogen ist. Hierzu bietet sich ein Beispiel an: Einige Kinder spielen im Garten zusammen. Ein vierjähriger Junge tritt auf eine Schaufel, die zufällig herumliegt. Dadurch schnellt der Stiel der Schaufel hoch und trifft ein anderes Kind. Ein Erwachsener, der dies zufällig beobachtet, fragt den Jungen, warum er das getan habe. Der Junge reagiert empört: "Das war ich nicht, ich habe den Stiel nicht angefasst." Viele Erwachsene würden wie folgt reagieren: "Du lügst, ich habe es mit eigenen Augen gesehen!" Dieser ganze Vorgang hat jedoch nichts mit Lügen von Seiten des Jungen zu tun. Der Junge war einfach nicht in der Lage, einen Zusammenhang zu sehen zwischen dem Treten auf eine Schaufel und einem Stiel, der an ganz anderer Stelle landet als dort, wo sich der Junge befindet. Er kann nicht differenzieren und verschiedene Betrachtungsweisen unterscheiden. Seine Wahrnehmung ist in diesem Alter noch egozentrisch geprägt. Deshalb ist seine Empörung aus entwicklungspsychologischer Sicht berechtigt.[5]
Modelllernen
Beim Prozess des Modelllernens versucht das Kind, bei anderen wahrgenommenes Verhalten bewusst oder unbewusst zu übernehmen. Hierzu bietet sich folgendes Beispiel an: Einer Gruppe von Kindern im Kindergarten wird ein Film vorgeführt, in dem ein Erwachsener (das Modell) sehr aggressiv mit einer Puppe umgeht. Die andere Gruppe (die Kontrollgruppe) sieht den Film nicht. Beide Gruppen werden mit einer solchen Puppe in ein Spielzimmer geführt und es wird untersucht, ob das aggressive Verhalten des Modells übernommen wird oder nicht. Das Erbgebnis: Kinder, die das Modell gesehen hatten, zeigten mehr Imitation der wahrgenommenen Aggression und sie waren deutlich aggressiver als die Kinder der Kontrollgruppe.[6]
Trotzphase
Manche Autoren gehen davon aus, dass Kinder, die die Trotzphase nicht durchlaufen, von vornherein Gefahr laufen, sich unausgeglichen zu entwickeln.[7] Bei der Trotzphase scheint ein Missverhältnis zwischen dem, was das Kind will, und dem, was das Kind kann, zu sein. Aufgrund des oben beschriebenen Egozentrismus, handelt es sich bei der Trotzphase um eine beschränkte Wahrnehmung der Realität.[8]
Spielverhalten
Siehe auch Spielepädagogik
Spielen lässt sich zunächst sehr allgemein als eine Art des "In - Beziehung - Setzens" zur Welt bezeichnen.[9] Da die Kinder beobachten und nachahmen (auch die Gruppenleitung) sind Imitationsspiele, Rollenspiele, Sandspiele, das Spielen mit Knete, Bewegungsspiele, Märchen, Bilderbücher und Erzählungen gute Methoden, um auf die Bedürfnisse der Kinder einzugehen. Wichtig dabei ist, dass genaue Spielanleitungen gegeben werden. Auch die aufkommenden Fragen der Kinder brauchen besonders in diesem Alter Beantwortung. Durch die Förderung von Kreativität, Koordinationsvermögen, Konzentrationsvermögen usw. trägt man zur Weiterentwicklung der Kinder bei. Eine eindeutige Unterscheidung der Gruppenleitung zwischen Recht und Unrecht ist wichtig, weil die Kinder nur in Gut und Böse denken können, da noch keine ausreichende Erfahrung vorhanden ist (Schwarz-Weiß-Denken). Besonders gilt, dass die Kinder nicht überfordert werden, da sonst Minderwertigkeitsgefühle entstehen. Annerkennung und Ermutigung sind wichtige Bestandteile der Arbeit.
Die Lebenswelt
Wichtigste Bezugsperson des Kleinkindes ist sicherlich zunächst die Mutter. Nach heutigen Erkenntnissen geht man jedoch davon aus, dass dies nicht zwangsläufig die leibliche Mutter sein muss. Wichtig für eine gesunde Entwicklung ist die Möglichkeit ein Bindungsverhalten zu entwickeln. Nicht die biologische Mutter ist die Garantie fur eine gesunde psychische Entwicklung, sondern die Person, die dem Kind die Möglichkeit gibt, sich an sie zu binden, die das Kind akzeptiert, die auf das Kind und sein Verlangen, sich an anere zu binden, eingeht.[10] Meistens wird diese Bindungsfunktion von der biologischen Mutter und dem Vater erfüllt. Es können aber auch andere Verwandte oder Bekannte der Familie diese Funktion übernehmen.
Mittlere Kindheit
Der Zeitraum der Mittleren Kindheit ist geprägt von verschiedenen Sozialisationsprozessen. Sozialisation bezeichnet die Summe aller Erfahrungen, die ein Kind macht in Bezug auf seine Person, auf die Kultur, in der es lebt, die Gesellschaft mit ihren Regeln und Strukturen. Als Entwicklungsaufgabe muss das Kind lernen, eine eigene Position zu den eben genannten Dingen zu finden.[11] Die Beschäftigung mit Sozialisationsprozessen beschäftigt sich also auch mit der Frage, welche Erfahrungen das Kind mit den Entwicklungsaufgaben macht.
Kognitive Entwicklung
Kognition ist ein umfassender Begriff für Denken und Wahrnehmen, also Tätigkeiten, die entweder zum Wissenserwerb führen oder zur Verwendung des Wissens benötigt werden.[12] In der Phase der Mittleren Kindheit nimmt die Ich - Bezogenheit des Kindes ab. Mit ca. 11-12 Jahren entwickelt das Kind die Fähigkeit zur abstrakten Intelligenz, d. h. es kann Spekulationen äußern, sich Gedanken über die Welt machen und logische Zusammenhänge knüpfen.[13] Diese Fähigkeit zu logischem Handeln bezieht sich jedoch nur auf Situationen, in denen konkretes Anschauungsmaterial (z.B. in der Gruppenstunde) vorhanden ist.[14] Bezogen auf das Beispiel des kleinen Jungen in der Frühen Kindheit würde dies heissen: Tritt der Junge nun mit 12 Jahren nochmal auf die Schaufel und trifft mit dem Stiel ein anderes Kind, kann der Junge nun erkennen, dass er der Auslöser dafür war.
Beziehungen
Bestand das soziale Umfeld in der Frühen Kindheit noch hauptsächlich aus der Familie, also im wesentlichen den Eltern, beginnt das Kind in der Mittleren Kindheit sich allmählich von der Familie zu lösen und Kontakte zu anderen Personen zu knüpfen. Diese Erweiterung des sozialen Umfeldes bringt es mit sich, dass das Kind Einflüssen ausgesetzt ist, die nicht mehr der Kontrolle der Familie unterliegen. Es hat Umgang mit Freunden und Lehrkräften, die den Prozess der Sozialisation entscheidend mit prägen. Die Altersgenossen beginnen zunehmend eine wichtigere Rolle zu spielen. Aber auch die Entwicklung vom Verständnis, was "richtig" oder "falsch" ist, bildet sich maßgeblich heraus. Darüber hinaus beginnt die Entwicklung der Geschlechtsidentität (was ist meine Rolle als heranwachsende Frau bzw. heranwachsender Mann?) eine wichtige Rolle zu spielen.[15]
Medien & Spielsachen
Ein wesentlicher Bereich der Sozialisation sind Medien und Spielsachen, beispielsweise Bücher, Computer, Fernsehen. Besonders interessant ist die Tatsache, dass Medien und Spielsachen Jungen und Mädchen ganz unterschwellig darin beeinflussen, wie denn ein Junge und ein Mädchen bzw. ein Mann und eine Frau sich zu verhalten haben. Denn die vermittelten Rollenbilder sind meist klischeehaft und es kann vermutet werden, dass diese auch Auswirkungen auf das spätere Rollenverständnis als Frau bzw. Mann haben.[16] Sozusagen als Experiment kannst du ja mal in ein Spielwarengeschäft gehen und dir die verschiedenen Regale anschauen. So findet man beispielsweise in der Abteilung für Jungen, Spielwaren (meistens dunkle Farben), die die Bereiche Weltraum, Western, Piraten und Ritter umfassen. Also Themen, die sich mehr oder weniger um Kampf drehen. In der Abteilung für Mädchen (eher hellere Farben, rosa) wird man eher Traumschlösser und Puppenhäuser finden.[17] Du musst dich selbst fragen, inwiefern solch festgelegte Rollenmuster bereits bei Spielsachen gut sind? Wenn du mal Fernsehsendungen für Kinder und Jugendliche anschaust und die Rollen und das Verhalten der Schauspieler analysierst, solltest du dir die gleiche Frage stellen.
Kindergarten und Schule
Die ersten Institutionen, die das Kind kennerlernt sind Kindergarten bzw. Schule. Hier ist vor allem der Aspekt interessant, dass diese Institutionen von weiblichen Fachkräften geprägt sind. Noch vor einigen Jahren war die Forschung der Meinung, dass Mädchen in Kindergarten und Schule besonderer Betreuung bedürfen. Heute wird eher davon ausgegangen, dass Jungen benachteiligt werden. Jungen wachsen in der Regel ohne männliche Identitätsfigur auf.[18] Wie die Mädchen und Jungen ihre zukünftige Rolle als Frau bzw. Mann verstehen, hängt also auch maßgeblich davon ab, wie Erzieherinnen und Erzieher bzw. Lehrerinnen und Lehrer eigene Vorstellungen von Geschlechtsrollen reflektieren. Lässt eine Erzieherin Mädchen immer nur mit Puppen und Jungen mit Bauklötzen spielen? Werden Mädchen immer beim Tischdecken und Spülen aufgefordert? Werden Mädchen zum Streitschlichten und Sichvertragen gedrängt, während man sich bei Jungen begnügt, mit dem Streit aufzuhören?[19]
Aggression und Gewalt
Das Verhältnis zu Gewalt und der Umgang mit Aggressionen gehören wohl zu denjenigen Bereichen, die sich im Alltagsverständnis von männlich und weiblich am deutlichsten voneinander unterscheiden. Tätsächlich werden Gewaltverbrechen (z. B. Schlägereien an Schulen) eine ganz überwiegend männliche Angelegenheit. Mädchen, die hingegen etwas "stiller" sind, laufen leider Gefahr, mit ihren Problemen nicht ausreichend beachtet zu werden.[20]
Jugendalter
Selbstversuch
Einzelnachweise
- ↑ Grob/Jaschinksi, 2003, S. 11
- ↑ Rendtorff, Barbara, 2003, S. 56
- ↑ Rendtorff, Barbara, 2003, S. 62
- ↑ Mönks, Franz J., 1996, S. 83
- ↑ Mönks, Franz J., 1996, S. 88
- ↑ Mönks, Franz J., 1996, S. 95
- ↑ Mönks, Franz J., 1996, S. 97
- ↑ Mönks, Franz J., 1996, S. 99
- ↑ Rendtorff, Barbara, 2003, S. 103
- ↑ Mönks, Franz J., 1996, S. 76
- ↑ Rendtorff, Barbara, 2003, S. 113
- ↑ Mönks, Franz J., 1996, S. 148
- ↑ Rendtorff, Barbara, 2003, S. 118
- ↑ Mönks, Franz J., 1996, S. 157
- ↑ Mönks, Franz J., 1996, S. 134
- ↑ Rendtorff, Barbara, 2003, S. 149 ff
- ↑ Rendtorff, Barbara, 2003, S. 155
- ↑ Rendtorff, Barbara, 2003, S. 166
- ↑ Rendtorff, Barbara, 2003, S. 167
- ↑ Rendtorff, Barbara, 2003, S. 175
Literatur
- Grob, Alexander/Janschinski, Uta, 2003. Erwachsen werden. Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Weinheim/Basel/Berlin: Beltz Verlag
- Mönks, Franz J., 1996. Lehrbuch der Entwicklungspsychologie. München: Ernst Reinhardt GmbH & Co
- Rendtorff, Barbara, 2003. Kindheit, Jugend und Geschlecht. Einführung in die Psychologie der Geschlechter. Weinheim/Basel/Berlin: Beltz Verlag